Das Reit im Winkler Tal wurde relativ spät besiedelt, erste Schenkungsurkunden stammen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Die Erstbesiedelung fand sicher etwas früher statt. Ein fürstliches Urbar und ein Alphandbrief aus dem Jahr 1476 tauchen bereits bei einer Verhandlung vor dem Landschrannengericht auf, hier fordern die „Reuter vom Winkl“ alte Rechte ein. Außerdem haben die Reit im Winkler Bauern zur Begründung von Weiderechten beim kgl. Amtsgericht in Traunstein am 26.7.1905 ein Grundbuch von 1345 mit einer Abhandlung über „Besitz und Eigentum der Gemeinde Reit im Winkl an den Alpen Winklmoos und Wildalpe“ beigegbracht.
Man kann also davon ausgehen, daß die Almwirtschaft schon bald nach der Erstbesiedlung begonnen hat, denn erst durch die Älpung und Sömmerung des Viehs konnte der Viehbestand stark vergrößert werden.
Die ersten Bauten auf den Almen mussten zwangsläufig sehr einfach, auch primitiv gewesen sein. Zunächst stand nur Baumaterial aus der unmittelbaren Umgebung zur Verfügung – Klaubsteine und Holz. Sie boten aber Schutz vor Unwettern und den damals noch vorhandenen Raubtieren wie Bär und Wolf. Die Zuwegungen aus dem Tal waren wohl einfache, eben vom Vieh noch begehbare Steige, auf denen auch Butter und Käse ins Tal getragen werden konnte. Lebensnotwendig für eine Alm war und ist eine, auch in trockenen Sommern verlässliche Wasserversorgung. Waren diese Bedingungen erfüllt, konnte auch eine Alm sinnvoll betrieben werden.
Nach alten, großenteils bis heute gültigen Rechtsbeschreibungen war der Viehauftrieb und der Bau eines Kasers, (der Begriff „Kaser“ stammt mit großer Wahrscheinlichkeit vom lat. „casa“ und nicht von „Käser oder käsen“) schon sehr frühzeitig verbindlich geregelt.
In Reit im Winkl gibt es nur Eigentumsalmen. (Ausnahme: die Vordere Klausenbergalm ist eine Berechtigungsalm). Allerdings sind hier die angrenzenden Waldweiden auf Forstgrund Berechtigungsweiden und dürfen nur zeitlich limitiert genutzt werden. Für einzeln stehende Almen ist die Eigentumsfläche (meistens die Lichtweide) und die Größe der Waldweide (soweit vorhanden), vermessen und beschrieben. Bei Almkomplexen wie der Winklmoosalm und der Hemmersuppenalm ist die Eigentümerin der Gesamtalm die Almgenossenschaft. Innerhalb dieser Almgenossenschaft sind die Anteile in Form von Anzahlen der Kuhgräser, Pferdeauftriebszahlen, Kaserbaurecht, Arbeitsschichten und dgl. für jeden Almgenossen einzeln genau geregelt. Interessant ist hier, dass nicht alle Almgenossen das Recht haben, einen Kaser zu bauen, vor allem bei Rossweiderechten ist meistens ein Kaserbau nicht vorgesehen.
Verschiedene Almen sind auch mit Schneefluchtrechten belastet, so kann das Vieh bei einem sommerlichen Wintereinbruch von der Dürrnbachalm auf die Winklmoosalm und von der Tiroler Eggenalm auf die Hemmersuppenalm abgetrieben werden.
Diese Rechte sind meistens sehr alt, wurden aber schon früh schriftlich fixiert und sind heute noch gültig. Sie werden auch noch angewendet.
Wie bereits beschrieben, ermöglichten die Sommerweiden einen erhöhten Viehbestand. Dabei wurden schon zeitig im Sommer die tieferliegenden Heimalmen genutzt, waren diese abgegrast, trieb man das Vieh auf die Mittelleger oder auch auf Hochalmen oder Hochleger. Ende des Sommers, wenn auf den höher gelegenen Almen das vorhandene Futter spärlicher und die Wetterverhältnisse schon eher winterlich wurden, besuchte man wieder die Heim- und Niederalmen. Auf diese Weise waren der Heimhof und die Heimweiden meistens vier Monate lang vom Futterdruck der großen Viehherde entlastet, der Viehbestand konnte durch Almsömmerung hoch gehalten werden.
Heute sind die Almen fast ausschließlich mit Straßen, oder doch mit befahrbaren Wegen erschlossen, meistens ist nur noch wartungsarmes Jungvieh auf den Almen. Wenn Milchvieh aufgetrieben wird, kommt die Milch in der Regel zur weiteren Verarbeitung täglich zum Heimhof. Auf vielen Almen schaut man halt bei Bedarf vom Heimhof aus nach dem Vieh, den Wasser- den Salztränken und nach den Zäunen. Falls wirklich eine Dauer-Arbeitskraft auf einer Alm vorhanden ist, kümmert die sich um kleine Brotzeiten und einen bescheidenen Ausschank für Gäste. Anders geht’s halt nimmer.
Früher war das anders. Bis in die 60er/70er Jahre des 20. Jhd. wurde, bis auf ein paar Heimkühe zur Eigenversorgung, das gesamte Groß- und Kleivieh auf der Alm gesömmert.
Wenn A. Egger in seiner Dissertation „Geschichtskunde Reit im Winkl“ feststellt, daß im Jahr 1863 auf den Reit im Winkler Almen 2464 (!) Stück Klein- und Großvieh aufgetrieben war, so ist das heute kaum mehr vorstellbar. Dieses Vieh musste versorgt, gemolken, ausgetrieben, oft gesucht und heimgetrieben werden. Die Milch musste zu Butter und Käse, alles ohne Maschinen, von Hand verarbeitet werden. Die meist jungen Senninen und Melker hatten ein heute unvorstellbares Arbeitspensum zu bewältigen und das jede Woche 7 Tage lang. Für heutige Begriffe trugen diese jungen Mädchen alleine alle Verantwortung für 30 bis 40 Stück Großvieh. Der Bauer erwartete ein gesundes Heimkommen der gesamten Herde im Herbst. Die Almleute hatten den ganzen Sommer über wirklich Schwerstarbeit zu leisten, die vielbesungene Almromantik entstand mehr in den Büchern und Schriften der Almbesucher.
Und doch muss das Almleben einen gewissen Zauber und Reiz gehabt haben, manche Senninen haben 50 Almsommer zusammen gebracht.
Vielleicht war es auch das freie Leben, die große Eigenverantwortung, die Selbsteinteilung der anfallenden Arbeit und das Gefühl, einen Sommer lang dem Spinnennetz des Heimhofes entflohen zu sein.
Mögen sich die Strukturen und das Leben allgemein auf den Almen geändert haben, so sollte uns doch bewusst sein, daß auch die heutige Almwirtschaft die Almflächen vor Verbuschung und Vermurung schützt, daß sie die Voraussetzung für unsere einmalige Almflora schafft.
Michael Walcher